Das Piano brennt immer noch

Jerry Lee Lewis‚ Leben ist eine einzige Achterbahnfahrt zwischen großen Erfolgen und tiefsten Abstürzen. Dass der wilde Mann des Rock’n’Roll bald 75 wird und auch noch ein neues Album mit im Gepäck hat, wirkt wie ein kleines Wunder.

Mitternacht ist längst vorbei. Elvis Presley schläft. Es ist ruhig in Graceland in dieser Nacht im November des Jahres 1976 – bis plötzlich ein Auto mit schlingernden Reifen in das Tor des Anwesens kracht. Der Fahrer springt heraus, fuchtelt mit einer geladenen Pistole herum und brüllt, dass er Elvis sehen will. Den „King of Rock’n’Roll“ bekommt Jerry Lee Lewis in dieser Nacht nicht zu Gesicht. Dafür aber die Polizei, die den „Killer“, wie Lewis seit seiner Schulzeit wegen seiner Wildheit auch genannt wird, in die Ausnüchterungszelle steckt.

Eine Szene, die exemplarisch für Lewis‘ skandalträchtiges Leben ist. Ebenso wie die Geschichte, als er betrunken den Bassisten seiner Band anschoss oder während eines Konzerts sein Klavier anzündete, um dem danach auftretenden Chuck Berry den Auftritt zu versauen. Nicht zu vergessen seine sechs Ehefrauen, mit denen er zum Teil gleichzeitig verheiratet war sowie zahlreiche Alkohol- und Drogeneskapaden.

Das einzig große Talent

Was manchmal vergessen wird: Neben all diesen Skandalen ist Lewis ein begnadeter Musiker, der mit dem Who-is-Who der Rockgeschichte im Studio und auf der Bühne stand – bereits in den 1950er Jahren mit Elvis Presley, Johnny Cash, Carl Perkins oder Chuck Berry. Und er weiß von seinem Genie: „Es gibt da draußen nur ganz wenig große Talente. Ich sage nicht, dass ich eines davon bin. Ich bin das Einzige“, erklärte er einem Reporter Ende der 1970er Jahre – zu einem Zeitpunkt, als er dem Tod näher stand als dem Leben.

Die Anfänge am heimischen Klavier

Lewis wird am 29. September 1935 in Ferriday, einem Städtchen im US-Bundesstaat Louisiana, geboren und wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Der Country und Blues der 1940er Jahre entfachen in Lewis die Liebe zur Musik. In der örtlichen Kirche spielt er zum ersten Mal Klavier. Seine Eltern erkennen sein Talent und kaufen ihrem Sohn ein Klavier, auf dem er fortan wie besessen übt. Hier entwickelt er seinen exzentrischen Pianostil: Mit der linken Hand pumpt er einen wilden Boogie-Woogie in die Tasten, mit der rechten spielt er die Melodie.

Der frühe Ruhm

Kaum 15 Jahre alt, verdient sich Lewis sein Geld als Pianist in schummrigen Bars. Seine erste Ehe schließt er 1952 im Alter von 16 Jahren. Doch die Ehe mit Dorothy geht ein knappes Jahr später in die Brüche. Kurz darauf heiratet er Jane, die von ihm schwanger ist.

Im Frühjahr 1956, Lewis ist 21 Jahre alt, geht er nach Memphis, um bei Sun Records vorzuspielen, jener Schallplattenfirma, die kurz zuvor schon Elvis Presley und Johnny Cash zu Stars gemacht hatte – und auch ihn nach ganz oben katapultiert: Seine zweite Single „Whole Lotta Shakin‘ Goin‘ On“ stürmt an die Spitze der US-Charts. Genau wie die Nachfolger „Great Balls of Fire“ und „Highschool Confidential“.

Der tiefe Sturz

Doch der Ruhm währt nur kurz: Die Presse kommt dahinter, dass Lewis seine erst 13-jährige Cousine Myra geheiratet hat. Dass er zu diesem Zeitpunkt noch nicht von seiner zweiten Frau Jane geschieden ist, macht den Skandal perfekt. Seine Popularität fällt ins Bodenlose.

Die folgenden zehn Jahre tingelt Lewis wieder durch kleine Clubs und Bars. Die Alben, die er in jener Zeit aufnimmt, sind kommerziell wenig erfolgreich, seine Schallplattenfirma will ihm Ende der 1960er keinen neuen Vertrag mehr geben. Doch dann veröffentlicht Lewis 1969 „Another Place, Another Mind“, ein reines Countryalbum. Es wird ein Erfolg – wie auch die folgenden 20 Alben. Lewis ist wieder im Geschäft und sammelt bis Mitte der 1970er Jahre Top-Ten-Platzierungen und Nummer-1-Hits wie andere Menschen Facebook-Freunde.

Doch seine langjährige Alkohol- und Tablettensucht fordert nicht nur gesundheitlich ihren Tribut: Myra lässt sich 1970 von ihm scheiden. Ein Jahr später heiratet er Jaren Pate, mit der er drei Jahre zusammenbleibt. Immer häufiger kommt Lewis mit dem Gesetz in Konflikt, kaum ein Tag, den er nüchtern verbringt. Ab Mitte der 1970er Jahre bleiben dann auch die großen Erfolge aus. Lewis scheint seinen Zenit endgültig überschritten zu haben. Als er im Februar 1978 in die Krankenhaus-Notaufnahme eingeliefert wird, melden Zeitungen und Fernsehsender zwar etwas verfrüht seinen Tod. Überraschend wäre dieser zu diesem Zeitpunkt aber nicht gewesen.

„Ich könnte schon in Rente sein“

Lewis überlebt diese dunkelste Phase seiner Karriere. Im Jahr 1983 heiratet er seine fünfte Frau Shawn Stephens, die noch im selben Jahr an einer Überdosis Drogen stirbt. Ein Jahr später steht Lewis mit Kerrie McCarver ein vorerst letztes Mal vor dem Traualter – die Ehe hält bis 2005. Mit seiner Karriere geht es wieder steil bergauf: 1986 erhält der Killer den musikalischen Ritterschlag, als er in die „Rock’n’Roll Hall of Fame“ aufgenommen wird. Drei Jahre später bringt Hollywood sein Leben in die Kinos: „Great Balls of Fire“, mit Dennis Quaid in der Hauptrolle, verschafft dem Killer neue Popularität. Seine Tourneen sind meist ausverkauft, sein 2006 erschienenes Album „Last Man Standing“ verkauft sich weltweit rund 500.000 mal.

Pünktlich zu seinem 75. Geburtstag kommt nun sein neues Album „Mean Old Man“ in die Läden, auf dem Stars wie Eric Clapton, Ringo Starr, Mick Jagger, Kid Rock oder Sheryl Crow als Gastmusiker vertreten sind. „Ich könnte schon längst in Rente sein, doch ich muss einfach weiter Musik machen“, erklärte Lewis einem Reporter von „USA Today“.

Rock’n’Roll wie in alten Tagen

Ähnlich wie der Country-Sänger Johnny Cash auf den letzten Alben vor seinem Tod, interpretiert Lewis auf „Mean Old Man“ fast nur Lieder anderer Künstler. Anders als Cash reduziert Lewis die Lieder jedoch nicht auf Gitarre und Gesang und verleiht ihnen auch nicht diese sakrale Düsternis, die so charakteristisch für Cashs „American Recordings“ war.

Im Gegenteil: Durch manche Lieder rockt sich Lewis fast wie in alten Zeiten. Mich Vickerys „Rockin’ My Life Away“, erstmals 1979 auf dem Album „Jerry Lee Lewis“ veröffentlicht, ist eines davon: Ein treibender Rock’n’Roll-Kracher, bei dem Lewis den Boogie ähnlich hart in die Tasten haut, wie anno 1957 und bei dem er sich mit Kid Rock ein Duett liefert, während der ehemalige Guns’n’Roses-Gitarrist Slash in die Saiten greift. Ein ähnliches Kaliber ist dann das Chuck-Berry-Cover „Roll Over Beethoven“ bei dem der Ex-Beatle Ringo Starr die Trommelstöcke schwingt.

Lässiger Western-Swing

Ruhiger lässt es Lewis mit den Songs „Dead Flowers“ oder „Sweet Virginia“ angehen. Der Killer macht aus den beiden Rolling-Stones-Covern, bei denen Mick Jagger und Keith Richards mitspielen, klassische Countrysongs, die von seiner trockenen, harten Stimme getragen werden. Höhepunkt des Albums ist aber „You Are My Sunshine“, das ursprünglich 1939 veröffentlicht wurde und seitdem unzählige Male nachgespielt worden ist. Im Original ein schwermütiger Bluegrasssong, verwandeln Lewis und Sheryl Crow ihn in ihrem Duett zu einem lässig-swingen Countrysong.

Und das ist der große Unterschied zwischen den Spätwerken von Lewis und Cash. Während bei Cash die Düsternis regierte und es wirkte, als erwarte er mit offenen Armen das Ende, ist es bei Lewis anders herum: Die Freude, dem Tod und dem Schicksal in all den Jahren immer wieder ein Schnippchen geschlagen zu haben, ist mit jedem Ton zu hören. „Ich habe die traurigen Momente nie mein Leben bestimmen lassen. Ich habe mit den Zähnen geknirscht und dann weiter gemacht“, sagte Lewis einmal. An diesem Prinzip hält der Killer auf „Mean Old Man“ fest. Er strotzt vor Kampfeswille, immer bereit, noch ein paar Runden zu gehen und dem Tod so vielleicht noch ein paar Jahre mehr abzutrotzen.

Der Artikel ist zuerst am 22. September bei ARD.de erschienen.

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