„Verbraucherinteressen sollten vor die Interessen des Vermittlers gestellt werden“

Für Stuntman dürfte der BU-Schutz teuer werden. Foto: Abigail Keenan
Für Stuntmen dürfte der BU-Schutz teuer werden. Foto: Abigail Keenan

Irgendwie ist es paradox: Kaum eine Versicherung wird selbst von Kritikern als so sinnvoll angesehen wie die Berufsunfähigkeitsversicherung und kaum eine Versicherung steht so in der Kritik wie die Berufsunfähigkeitsversicherung. Warum das so ist, wollte ich vom Versicherungsmakler Gerd Kemnitz wissen.

Gerd Kemnitz ist Diplomingenieur und Versicherungsmakler mit Spezialisierung auf Berufsunfähigkeitsversicherungen. Er analysiert die Bedingungen der verschiedenen Tarife kritisch und fordert auch seine Mandanten auf, sich aktiv bei der Auswahl des optimalen Versicherungsschutzes zu beteiligen. Nur wer mögliche Bedingungsverbesserungen und Leistungserweiterungen kennt, kann diese einfordern – oder bewusst darauf verzichten.

Herr Kemnitz, die Berufsunfähigkeitsversicherung ist eine der wenigen Versicherungen die sogar von Versicherungskritikern als sinnvoll angesehen wird. Trotzdem hat sie in der öffentlichen Wahrnehmung einen schlechten Ruf und nur rund ein Viertel aller Erwerbstätigen hat überhaupt eine. Woran liegt das?

Die Versicherungsbranche hatte viele Jahre Berufsunfähigkeitsversicherungen mit – aus heutiger Sicht – mangelhaften Versicherungsbedingungen, wie zum Beispiel ohne Verzicht auf abstrakte Verweisung oder auch ohne konkrete Definition des Begriffs Lebensstellung, vermittelt. Der Verbraucher hatte für seine gezahlten Beiträge aber einen umfassenden Berufsunfähigkeitsschutz erwartet. Außerdem wurde von einigen Vermittlern die Notwendigkeit der wahrheitsgemäßen Beantwortung der Antragsfragen bagatellisiert. Die daraus resultierenden Leistungsablehnungen und gerichtlichen Auseinandersetzungen haben zu dem schlechten Ruf geführt – auch wenn der überwiegende Teil der Leistungsanträge schnell und zum Wohle des Versicherten bearbeitet werden.

Ok, das war früher. Aber wie sieht es heute aus?

Gerd_Kemnitz ist Versicherungsmakler mit Spezialisierung auf BU-Versicherungen. Foto: Privat
Gerd Kemnitz ist Versicherungsmakler mit Spezialisierung auf BU-Versicherungen. Foto: Privat

Das Niveau der Versicherungsbedingungen hat sich inzwischen deutlich erhöht und es werden heute nur noch selten BU-Versicherungen mit mangelhaften Bedingungen angeboten. Aber die Versicherungsbranche macht meiner Ansicht nach derzeit wieder einen ähnlichen Fehler. Wer sich aus finanziellen oder gesundheitlichen Gründen keine BU-Versicherung leisten kann, bekommt nun mit Erwerbsunfähigkeits-, Dread-Disease-, Grundfähigkeits- oder MultiRisk-Versicherung eine sogenannte „preiswertere Alternative“ angeboten. Ich bin mir nicht sicher, ob dem Verbraucher auch wirklich immer verdeutlicht wird, wie groß dabei die Löcher im Versicherungsschutz sind. Außerdem konnte mir noch kein Befürworter dieser so genannten Alternativen sagen, womit ein Betroffener beispielsweise seine Erwerbsunfähigkeitsversicherung weiter bezahlen soll, wenn er zunächst „nur“ berufsunfähig wird – dadurch aber trotzdem Job und Einkommen verloren hat.

Vor allem Menschen, die körperlich stark verschleißende Tätigkeiten nachgehen, hätten eine Berufsunfähigkeitsversicherung nötig, haben es aber schwer einen geeigneten Schutz zu bekommen, entweder weil ihnen sofort ein Leistungsausschluss droht oder die Beiträge zu teuer wären. Wie könnte das geändert werden? Ist hier neben der Branche auch die Politik in der Pflicht?

Schuld an diesem Dilemma ist die zunehmende Berufsgruppendifferenzierung durch die Versicherer. Dadurch wurde in den letzten Jahren der Berufsunfähigkeitsschutz für risikoarme Berufsgruppen zwar immer preiswerter – für Handwerker und körperlich Tätige jedoch immer teurer. Die Versicherer nennen dies risikogerechte Prämienkalkulation –  Kritiker Rosinenpickerei.

Inzwischen sind aber sogar einige Führungskräfte der Versicherungsgesellschaften mit der heutigen Berufsgruppendifferenzierung unglücklich, aber kein Versicherer kann diese Entwicklung im Alleingang umkehren. Würde dies ein einzelner Versicherer versuchen, würde er ja auf die „Rosinen“ verzichten und seinen Bestand vorrangig mit hohen Risiken auffüllen. Deshalb müssten alle Versicherer gleichzeitig und einheitlich Regelungen zur Abschaffung oder Reduzierung der Berufsgruppen einführen. Einige Marktteilnehmer befürchten hier jedoch ein Einschreiten des Bundeskartellamtes, da dies unerlaubte Absprachen zwischen Wettbewerbern wären.

Aus diesem Dilemma kommt die Branche nur schwer heraus.

Richtig. Deshalb muss die Politik endlich einschreiten und Richtlinien für die Berufsunfähigkeitsversicherer vorgeben. Man kann doch von den Berufstätigen keine Eigenvorsorge fordern, wenn ein großer Teil schon rein aus finanzieller Sicht keine Chance auf angemessene Eigenvorsorge hat.

Was schlagen Sie vor?

Die einfachste Lösung wäre, wenn der Gesetzgeber die Einführung von Unijob-Tarifen vorschreibt – also gleiche Beiträge für alle Berufe. Denkbar wäre aber auch, das die Versicherer ihre Berufsgruppen weiterhin frei wählen dürfen – aber die Beiträge der ungünstigsten Berufsgruppe zum Beispiel maximal 50 Prozent über denen der günstigsten Berufsgruppe liegen dürfen.

Zum Vergleich: Derzeitig berechnet beispielsweise die Stuttgarter einem 25-jährigen Notar für 1.500 Euro versicherte Berufsunfähigkeitsrente bis zum 67. Lebensjahr einen monatlichen Zahlbeitrag in Höhe von rund 57 Euro. Der gleichaltrige Bäcker soll für den gleichen Versicherungsschutz aber über 293 Euro monatlich bezahlen – also über 400 Prozent mehr! Dabei soll die Stuttgarter hier keinesfalls als Negativbeispiel verstanden werden. Es handelt sich um ein Problem bei allen Berufsunfähigkeitsversicherern und sollte lediglich an einem konkreten Beispiel verdeutlicht werden.

Ein weiteres Problem sind die Ausschlussklauseln oder Antragsablehnungen aus gesundheitlichen Gründen. Hier kann man nur an die Verbraucher appellieren, den BU-Schutz so zeitig wie möglich zu beantragen. Denn in jungen Jahren hat man normalerweise den besten Gesundheitszustand.

Die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen und der Bund der Versicherten haben vergangenes Jahr in einem Positionspapier eine Berufsunfähigkeitsversicherung mit vereinfachter Gesundheitsprüfung gefordert. Ist das die Lösung?

Solch pauschale Forderungen nach Tarifen ohne oder mit stark vereinfachter Gesundheitsprüfung nach dem Vorbild der betrieblichen Berufsunfähigkeitsversicherung setzen meiner Ansicht nach ein falsches Zeichen. Viele Berufstätige würden dann vermutlich mit dem Abschluss der Versicherung warten, bis sich ernsthafte gesundheitliche Beschwerden bemerkbar gemacht haben. Das kann nicht das Ziel sein.

Aber die Versicherer könnten jedem Jugendlichen nach Vollendung des 18. Lebensjahres innerhalb eines bestimmten Zeitraumes, zum Beispiel innerhalb von zwölf Monaten, eine solche Berufsunfähigkeitsversicherung mit stark vereinfachter Gesundheitsprüfung anbieten. Wenn das Problem der Berufsgruppendifferenzierung gelöst wäre, hätte dann kein Jugendlicher mehr Grund zum Abwarten auf eine günstigere Berufsgruppeneinstufung – ganz gleich ob er mit 18 noch Schüler, Azubi oder Student ist.

Vorübergehende psychische Erkrankungen oder einmalige Rückenprobleme können oft schon zum Leistungsausschluss oder einem saftigen Risikoaufschlag führen. Treibt das die Verbraucher nicht dazu falsche Angaben zu machen in der Hoffnung das merkt schon keiner?

Ich hoffe – nicht! Um Interessenten von solch einem gefährlichen Vorgehen abzuhalten, bieten viele Maklerkollegen und auch wir das Stellen von Risikovoranfragen an. Häufig lässt sich dadurch ein Berufsunfähigkeitsanbieter mit akzeptablen Konditionen finden.

Doch nicht immer führt ein solches Vorgehen zum gewünschten Erfolg. Dann kann ich mir durchaus vorstellen, dass das BGH-Urteil vom 25.11.2015 (AZ IV ZR 277/14) einige Betroffene ermuntert, bewusst das Risiko einer vorvertraglichen Anzeigepflicht und einer Vertragsanfechtung durch den Versicherer innerhalb der ersten 10 Jahre einzugehen, um danach zumindest die restlichen 25 oder 35 Jahre gegen Berufsunfähigkeit versichert zu sein (siehe Kasten). Aber das wäre eine riskante Strategie. Sowohl die Rechtsprechung als auch die Kontrollmöglichkeiten der Versicherer könnten sich innerhalb der nächsten 10 Jahre deutlich ändern!

[aesop_content color=“#ffffff“ background=“#333333″ width=“250″ columns=“1″ position=“left“ imgrepeat=“no-repeat“ floaterposition=“left“ floaterdirection=“up“]Ein Mann, der seit mehreren Jahren an Morbus Parkinson litt, hatte dies bei der Antragstellung verschwiegen. Nach 61/2 Jahren wurde er berufsunfähig, den BU-Leistungsantrag stellte er aber erst knapp zehn Jahre nach Abschluss der BU-Versicherung. Dadurch konnte der Versicherer den Vertrag erst nach Ablauf der 10-Jahresfrist wegen arglistiger Täuschung anfechten. Die Witwe des inzwischen verstorbenen Mannes klagte dagegen und bekam durch das o.g. Urteil vor dem BGH Recht, weil die Zehn-Jahres-Frist verstrichen war – und auch ausdrücklich, obwohl die Berufsunfähigkeit schon innerhalb der 10-Jahresfrist eingetreten war.

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Auf was sollten Vermittler achten, wenn Sie Kunden zur Berufsunfähigkeitsversicherung beraten?

Beim Berufsunfähigkeitsschutz geht es für den Verbraucher um eine existentiell wichtige Absicherung. Deshalb sollten hier die Verbraucherinteressen vor die Interessen des Vermittlers gestellt werden. Wenn ein Versicherungsvertreter oder -makler bei diesem Thema zu wenig Erfahrung hat oder keinen geeigneten Tarif anbieten kann, dann sollte er dies dem Ratsuchenden ehrlich mitteilen – auch wenn dies manchmal schwer fallen mag.

Die Berufsunfähigkeitsversicherung ist ein langlaufender Vertrag. Deshalb sollte der Berater nicht nur die aktuelle Situation betrachten, sondern gemeinsam mit dem Interessenten auch einen Blick in die Zukunft wagen. Plant der Interessent seine berufliche Karriere als Arbeitnehmer, als Selbstständiger oder als Beamter. Reicht eine Nachversicherungsgarantie ohne erneute Gesundheitsprüfung oder sollte besser auch auf die Prüfung des dann ausgeübten Berufs verzichtet werden? Der Verbraucher kann diesbezüglich unterschiedliche Bedingungspunkte bzw. Klauseln nicht kennen und sie deshalb auch nicht im Beratungsprotokoll als Wünsche äußern. Hier ist die Erfahrung und Weitsicht des Vermittlers gefragt.

Und bei der Tarifauswahl sollte sich der Vermittler nicht nur auf die Anzahl von Sternchen, Eulen oder Buchstaben von Vergleichsprogrammen verlassen. Er sollte die Versicherungsbedingungen der Tarife schon selbst gelesen und verstanden haben. Nur dann kann er auf die speziellen Erfordernisse eingehen und sowohl die Vorteile als auch die Nachteile eines Tarifs ehrlich aufzeigen.

Vielen Dank für das Interview!

Das Interview mit Gerd Kemnitz ist im Rahmen meiner Recherchen zu dem Artikel „Ausgebrannt“ für Value – Das Beratermagazin entstanden.

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